Magere Tage? Fette Tage? Vom Glauben zum kulinarischen Genus
Bis zum 19. Jahrhundert ernährten sich die Europäer nach den Vorgaben der Kirche.
Das Fasten – als theologische Tugend – wird von den meisten grossen Religionen praktiziert. Der Ramadan der Muslime ist heute die bekannteste Form der Fastenzeit. Das liegt daran, dass in den christlichen Gesellschaften die vom katholischen Kalender auferlegten Essensentsagungen in Vergessenheit geraten sind. Magere und fette Tage prägten den Rhythmus der Mahlzeiten vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert, wobei es doppelt so viele magere wie fette Tage gab. Hinzu kam von Zeit zu Zeit ein Mangel an Nahrungsmitteln, was dazu führte, dass die Europäer nur selten schlemmen konnten und ihren Gürtel immer öfter enger schnallen mussten: je nach Region und Frömmigkeit 150 bis 250 Tage im Jahr.
Busse durch Entsagung
Wenn Katholiken fasten, erinnern sie sich an Episoden aus dem Leben Christi, der Jungfrau Maria oder dem Leben bedeutender Heiliger. Hierbei handelt es sich nicht darum, vollständig zu fasten, sondern vielmehr darum, «magere» Lebensmittel zu essen, d. h. Lebensmittel mit nur wenig oder gar keinem Fett, die der Zurückhaltung, der inneren Einkehr und sexuellen Abstinenz zuträglich sind. So wird der Glaube unter Beweis gestellt, und man kommt dem Seelenheil näher. Dazu wird besonders anlässlich der grossen liturgischen Feste wie der Auferstehung, der 40-tägigen Fastenzeit oder Aschermittwoch aufgefordert. Und da der Sohn Gottes am Karfreitag gekreuzigt wurde, gehört der Freitag jetzt zu den mageren Tagen. Im Angedenken an den Aschermittwoch ist auch der Mittwoch für besonders Gläubige ein «magerer» Tag.
Verboten sind …
... an mageren Tagen Fleisch, Speck, Sahne und Butter sowie an den wichtigsten dieser Tage auch Eier. Genau diese Nahrungsmittel kommen an fetten Tagen auf den Tisch – in der Karnevalszeit sogar im Überfluss, denn dann kommen in Fett ausgebackene Spezialitäten (Schmalzgebäck, Krapfen …) hinzu, die den Körper im Januar und Februar erwärmen und ihn auf die nun folgende 40-tägige Fastenzeit vorbereiten. Es ist gut möglich, dass die Reformatoren in Nordeuropa in ihren Predigten ein verlockendes Argument benutzten, nämlich dass mit dem Protestantismus die mageren Tage und vor allem auch die Tage des Fastens verschwinden würden. Die Fastenzeit ist in der Tat nur schwer zu ertragen, wenn man keine tierischen Fette (vor allem keine Butter) zu sich nehmen darf und wenn darüber hinaus der Winter auch noch sehr hart ist. Im Gegensatz zu den Menschen im Mittelmeerraum konnten die Nordeuropäer nicht auf Olivenöl zurückgreifen, denn sie kannten es damals noch nicht. Olivenöl ist ein pflanzliches Fett und war folglich an mageren Tagen nicht verboten.
Fisch, die Qual der mageren Speise
Lange Zeit sahen Kinder der Freitagsmahlzeit mit Schrecken entgegen. Egal, ob in der Schulmensa, zu Hause oder im Restaurant, man konnte dem Fisch mit seinem langweiligen, grätendurchsetzten Fleisch nicht entkommen. Auch wenn heute freitags nicht mehr unbedingt Fisch gegessen wird, so ist es doch bemerkenswert, dass diese Regel in der säkularen Gesellschaft noch in gewissem Masse Bestand hat. Aus Respekt vor lokalen Bräuchen servieren selbst nicht katholische Gastwirte ihren Gästen freitags ein Fischgericht, obgleich ihnen die religiöse Bedeutung völlig fremd ist – genauso wie auch der Christen inzwischen vergessen, dass Fisch im Gegensatz zu Fleisch ein mageres Nahrungsmittel ist und Christus versinnbildlicht. Die ersten Buchstaben der griechischen Worte des Satzes «Jesus Christus, Sohn des Erlösers» bilden auf Griechisch das Wort Fisch (ichthus).
Schmecken Sie Geschichte
Mitten im Alimentarium, dem Museum der Ernährung in Vevey, befindet sich eine riesige Küche. Die Düfte, die aus dieser Küche kommen, machen den Besuchern Appetit auf mehr; sie bleiben gern stehen, schauen den Köchen hinter ihren Kochtöpfen auf die Finger, stellen Fragen zu den gerade zubereiteten Speisen und wenn dann Essenszeit ist, kommen sie, um sich einen Teller davon abzuholen. Aber nicht irgendeinen Teller! Es ist ein Stück inszenierter Geschichte: leicht verständlich, köstlich und auch noch schön. Chefkoch Jean-François Wahlen und sein Team liessen sich bei der Zubereitung und der Wahl der Zutaten von Rezepten vom Ende des 18. Jahrhunderts inspirieren. Das magere Menü ist natürlich ohne Fleisch. Das fette Menü erinnert jedoch an ein Karnevalsfestessen, denn in dieser Zeit ist alles erlaubt: Fleisch, Geflügel und vor allem Gebratenes.
Magere Mahlzeit: mariniertes Heilbuttfilet, Kräutersauce, Salzkartoffeln, gedämpfte Fenchelstreifen. Dessert: Apfellamellen mit Zitronensaft und Baiser.
Fette Mahlzeit: kleine Hähnchenroulade, Speck-Sahne-Sauce, in Schmalz goldbraun gebratene Kartoffeln, Eier-Flan mit Rote Beete. Dessert: Krapfen.
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Buttern nach traditioneller Art
Das für die Vorführung benutzte Butterrührgerät ist Teil der Sammlung des Museums. Es stammt etwa aus dem Jahr 1930 und kam in Privathaushalten zum Einsatz. Der Brauch wollte es, dass besonders für Sonntage, d. h. fette Tage, Butter hergestellt wurde.
Nach der Herstellung eines Butterstücks konnte man die Butter, so wie sie war, verbrauchen oder – vor allem wenn sie für den Verkauf bestimmt war – in eine mit einem meist symmetrischen Muster versehene Form geben. Wenn man das Butterstück dann aus der Form herausnahm, war es mit einem Motiv verziert. Die Käufer konnten so auf einen Blick erkennen, ob es sich um ein ganzes Stück handelte oder ob bereits ein Teil fehlte! Da Butter lange Zeit ein teures Produkt war, war es verlockend, um denselben Preis weniger zu verkaufen als angegeben.